Das Buch basiert auf den Erinnerungen von Maria Geisberger, einer 1927 geborenen „Aussiedlerin“ aus Döllersheim im Waldviertel, die als über 60jährige in Friedersbach bei Zwettl ein Gedächtnisprotokoll zu ihrer Jugend verfasst hat. Ihre alte Heimat musste dem Truppenübungsplatz Adolf Hitlers weichen, den dieser den Bewohnern abgepresst hat. Die Aufzeichnungen der Zeitzeugin sind im vorliegenden Tatsachenroman als „handschriftlicher“Beleg zu erkennen und werden mit historischen Fakten verwoben.
Fein säuberlich trug die heute hoch betagte Frau alles in ein Büchlein ein, was sich in ihrem Umfeld in den Jahren 1938 bis 1948 ereignet hat. Die geistig rege Aussiedlerin begann zu Sylvester 1988, ihre prägenden Jahre Revue passieren zu lassen. Mit einer ebenmäßigen Schrift und zahlreichen eingeklebten Fotos, Zeitungsausschnitten und Sterbebildchen dokumentierte sie akribisch alle Ereignisse in diesem grünen Band, dessen Wertschätzung allein schon wegen seiner kostbar anmutenden Goldprägung auf der Vorderseite zum Tragen kommt. Liebevoll fügte sie Bilder ihrer alten und neuen Heimat ein und mühte sich, eine historisch nachvollziehbare Chronologie der historischen Ereignisse in den Mikrokosmos ihrer bäuerlichen Welt einzubetten.
Die kluge Bauerntochter, die nach der Pflichtschule nie eine weiterbildende Anstalt besucht hat, sondern immer in der Landwirtschaft tätig war, verstand es, mit gewählten Worten und vorbildlicher Rechtschreibung die Vorkommnisse der damaligen Zeit authentisch wiederzugeben. Dies ist umso bemerkenswerter, als sie zu Hause immer Waldviertler Dialekt gesprochen hat und als Mädchen mehrfach von Mai bis Dezember wegen der Heu- und Kornernte der Schule fernbleiben musste.
Vor Jahren einmal las Maria in der ruinösen Friedenskirche von Döllersheim nach einem ökumenischen Gottesdienst aus ihren Aufzeichnungen vor, als die geistliche Prominenz und die weltlichen Honoratioren die 50-Jahrfeier dieses geschichtsträchtigen Ortes begingen. Damit sie nichts vergisst, notierte sie damals die wichtigsten Passagen auf kleine Zettel, die sie heute bei ihren Aufzeichnungen als Erinnerung verwahrt.
© Katharina Schabauer: Friedenskirche von Döllersheim mit Friedhof heute
Ein anderes Mal borgte sie dem niederösterreichischen Landesarchiv ihren einzigartigen Schatz, den sie lange verschämt vor ihren Söhnen versteckt hielt. Nach dem Kopieren der vielen handgeschriebenen Seiten schickte ihr der Archivrat aus St. Pölten einen Dankesbrief. Auch den hält Maria in Ehren. Deswegen klebt das Dokument seither auf der letzten Seite ihrer Notizen.
Verwandte, Freunde und Bekannte aus ihrer Jugend in Döllersheim hat Maria kaum noch, weil ihr die meisten weggestorben sind. Man kann die Überlebenden an einer Hand abzählen. Bis vor kurzem traf sie sich alljährlich noch mit einigen Aussiedlern. Am Allerseelentag pilgerten sie stets in die „Alte Heimat“, die von den Nationalsozialisten verniedlichend „Döllersheimer Ländchen“ genannt wurde und gedachten gemeinsam der toten Angehörigen, die dort bestattet sind. Manche Erinnerung wurde dann wieder wach.
Pfarrkirche und Friedhof von Döllersheim um 1938, Druck aus Marias Büchlein
Meine Eltern haben in der Kirche von Döllersheim 1926 geheiratet. Ich wurde dort getauft und empfing im Jahre 1936 die Erste heilige Kommunion. Im Juni 1937 wurde ich von Bischof Michael Memelauer in dieser Kirche gefirmt. Auf dem Friedhof von Döllersheim sind auch drei meiner Brüder begraben. „Einer ist nur ein halbes Jahr alt geworden. [i] Das war noch, bevor ich in die Schule kam. Der zweite ist ihm mit acht Monaten gefolgt. Der ist gestorben, wie die Eltern bei der Kartoffelernte draußen gewesen sind. Ich hab auf ihn aufgepasst und mit ihm gespielt. Er hat noch ‚gekudert’ vor Lachen, bevor’s ihn auf einmal gebeutelt hat. So schnell, wie ich die Mutter geholt hab, bin ich wahrscheinlich nie mehr in meinem Leben gerannt. Sie hat dann zwar noch den Doktor geholt, der gemeint hat, das seien die ‚Froasn’ und da könne man halt nichts machen. Bis es der Vater mit den Ochsen nach Haus geschafft hat, war’s aber schon zu spät. Auch mein dritter Bruder ist als Kind gestorben, der nur ein Jahr jünger gewesen ist als ich. Plötzlich hat er hohes Fieber gekriegt, nachdem wir in den Regenlacken herumgehüpft sind. Am nächsten Tag hat ihm jeder Knochen wehgetan. Er sagte, es sei, als ob ein „Holzschuh“ auf ihn drauf gefallen wär. Obwohl er mich noch gebeten hat, seinen Platz in der Schule zu reservieren, ist es ihm immer schlechter gegangen. Der hat gespürt, dass es mit ihm zu Ende geht. Plötzlich hat er die Mutter gerufen und gesagt: ‚Muata, i muass sterbn!’ In der Nacht darauf hat sie mich aus dem Schlaf gerissen und gesagt, dass ich ihn ‚pfiatn’ soll. Ich hab überhaupt nicht verstanden, warum, weil ich so verschlafen war. Am Morgen danach ist er schon aufgebahrt gewesen. An dieser geheimnisvollen Krankheit sind noch zwei Schüler in meiner Klasse gestorben. Ein erwachsener Mann in Döllersheim wurde auch krank, der ist aber wieder gesund geworden und hat nachher einen steifen Arm gekriegt. Es war eine richtige Epidemie. Nachher ist in der Zeitung gestanden, dass unsere Familie ein schweres Schicksal erlitten habe, weil meine Eltern innerhalb von vier Jahren drei Söhne verloren hätten.“
Nun sind Maria in Döllersheim nur noch die Gräber ihrer Lieben geblieben, die sie jahrelang sorgfältig gepflegt hat, zusammen mit den jungen Freiwilligen aus Franzen, die ein junger Benediktiner aus Seckau dazu bewegen konnte, diesem beschaulichen Gottesacker ein würdiges Aussehen zu verleihen. Einmal schenkte der Mönch Maria sogar sein Jausenbrot, als sie dort jätete. Im Arbeitsanzug der Feuerwehr hatte sie den Ordensbruder, der aus Großglobnitz stammte, zuerst gar nicht erkannt. Die Begegnung wird ihr ewig in Erinnerung bleiben, denn vier Jahre später war der junge Mann tot. Er ist bei einem Motorradunfall verunglückt. Auch sein Sterbebildchen hat Maria in ihr Buch eingeheftet.
© Katharina Schabauer: Friedhof von Döllersheim heute
Der Friedhof von Döllersheim mit seinen schmiedeeisernen Kreuzen, den einheitlichen Fünffingersträuchern auf den Gräbern und den rostigen Blechengeln, die pausbäckig die Toten bewachen, mutet romantisch an. Eine ganz eigene Atmosphäre des Verlassenen, Verblichenen und Verwesten ist hier zu spüren. Mehr als auf anderen Friedhöfen prägt dieser Eindruck die Idylle. Aber der Schein trügt. Es macht sich ein Misston in der harmonischen Stille breit, wenn man daran denkt, dass die Ahnen eines größenwahnsinnigen Tyrannen in dieser Erde ruhen, dessen Schreckensherrschaft einst von einem Nordlicht „eingeleuchtet“ wurde.
© Gerhard Geisberger: Engel auf dem Döllersheimer Friedhof
Manche glauben, dass die seltene Himmelserscheinung am 25. Jänner 1938 ein Zeichen für die nachfolgenden Gräuel des Zweiten Weltkriegs gewesen sei. Maria ist eine fromme Katholikin. Ihr verbietet die Religion, im Nordlicht ein böses Omen zu sehen. 60, mit den Kriegsfolgen gerechnet sogar 80 Millionen Menschen, haben Adolf Hitler und seine Schergen auf dem Gewissen. Wie hoch die Zahl der Opfer auch sein mag: Maria weiß nur, dass ihr dieser Hitler die Heimat und danach die schönsten Jahre gestohlen hat.