VORWORT

Ist es vermessen, am Beispiel einer Waldviertler Gemeinde die Essenz von Hitlers wahnwitziger Ideologie, deren Umsetzung er bereits in seiner Programmschrift „Mein Kampf“ voraus gesagt hat, herausfiltern zu wollen? Oder anders gefragt: Kann man den Zweiten Weltkrieg veranschaulichen, obwohl dieser Ort größtenteils von den Kriegsgräueln verschont geblieben ist? In diesem Buch soll zumindest der Versuch gewagt werden. Ottenschlag ist keine Metropole, die Geschichte geschrieben hat, trotzdem lässt sich am Mikrokosmos der Gemeinde vieles nachvollziehen, was auch außerhalb der kleinen Zelle den Weg in die Geschichtsbücher gefunden hat. Seien es die Jubelstürme in den ersten Tagen nach dem „Anschluss“ an Hitlerdeutschland, die Verfolgung der Anhänger von Vaterländischer Front und Katholischer Kirche, der Antisemitismus eines historisch tradierten Judenhasses, der Aufstieg der nationalsozialistischen Machthaber oder der als „Sterbehilfe“ getarnte Mord an Behinderten: Dies alles lässt sich auch in Ottenschlag nachweisen, obwohl viele Belege dieser dunklen Zeit vor der russischen Besatzungsmacht vernichtet und Erinnerungen lange tot geschwiegen wurden. Die ungezügelten Expansionsbestrebungen Hitlers werden durch die Grenznähe zum überfallsartig vereinnahmten Sudetenland veranschaulicht, die einzelnen Kriegsschauplätze anhand der Gefallenenschicksale und damit auch die jeweiligen Fronten, die Ottenschlags Vermisstenliste bedingten, dokumentiert. Sie markieren einprägsamer als jede Landkarte die maßlosen Machtansprüche des Despoten. Hilflose Versuche einiger weniger, Widerstand zu leisten oder sporadische Bemühungen vereinzelter Wehrmachtsangehöriger, zu desertieren, vermitteln neben der Loyalität der zahlenmäßig überwiegenden Parteisympathisanten die ambivalente Einstellung der Bewohner zum Nationalsozialismus. Auch die unterschiedliche Behandlung von Kriegsgefangenen, die sich einerseits durch Versklavung bemerkbar machte, vereinzelt aber auch von Mitleid durchdrungen war, zeigt die Zwiespältigkeit der Charaktere. All’ dies lässt sich anhand von Beispielen bis hin zum sadistischen Todesmarsch vermeintlicher „Juden“ durch den Ort belegen, bei denen es sich um Häftlinge eines Arbeitserziehungslagers handelte. Sogar ein Bombardement zu Hitlers letztem Geburtstag fand in Ottenschlag statt, bei dem ein Großteil des Ortes in Flammen aufging. Da sich kurz vor Kriegsende auch der Gauleiter von Niederdonau, Dr. Hugo Jury, im nahen Zwettl versteckte, ehe er sich selbst richtete, und der Reichsverteidigungskommissar Baldur von Schirach zunächst in die Einsamkeit des unweit von Ottenschlag gelegenen Altmelon flüchtete, wird offenkundig, dass die letzten Zuckungen des Zweiten Weltkriegs hier im südlichen Waldviertel stattfanden. Nicht umsonst wurde in dieser Gegend in den letzten Apriltagen vor dem Ende des Desasters noch Quartier für zwei Divisionen der Deutschen Wehrmacht gesucht, weil man damit rechnete, dass sich die Front hierher verlagern würde, was dann durch die Kapitulation hinfällig wurde. In und um Ottenschlag bäumte sich auch die SS letztmalig zu Willkürakten auf, während die Amerikaner und die Russen bereits auf der imaginären Türschwelle standen. Selbst ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher, der nach der Besatzungszeit in prominenter Funktion Karriere machte, ohne je zur Verantwortung gezogen zu werden, bleibt posthum dank eines zeitgenössischen Waldviertler Tagebuchschreibers nicht anonym. Die kriminelle Vergangenheit des Sadisten wird zudem durch die in den 1970er Jahren schriftlich festgehaltenen Erinnerungen eines betagten Zeitzeugen untermauert. Die Biografie des längst verstorbenen Übeltäters mag daher symptomatisch sein für viele, die sich geschickt der gerechten Strafe entziehen konnten. Uns Nachgeborenen, die wir die „Gnade der späten Geburt“ hatten, steht ohnehin kein Urteil zu.

Sämtliche Opfer werden hier mit Namen genannt, sofern dieser bekannt ist. Sei es, weil sie tot sind, wie die Gefallenen, die in Feindesland umkamen, sei es, weil sie verschollen blieben wie die Vermissten, mit deren Ableben man sich abfand oder die man für tot erklären ließ. Sie haben es verdient, nicht nur als nüchterner Schriftzug auf einem Kriegerdenkmal aufzuscheinen, sondern hier noch einmal als Individuen berücksichtigt zu werden. Auch wenn von ihnen nichts mehr in Erfahrung gebracht werden kann, werden sie namentlich gewürdigt, da sie nicht zur Fußnote degradiert werden sollten, auch wenn dadurch stilistisch im Text eine gewisse Monotonie in Kauf genommen werden muss. Einige Leidtragende des Nationalsozialismus in der Zivilbevölkerung bekommen in diesem Buch ebenfalls ein Gesicht. Doch auch die Täter werden namentlich an den Pranger gestellt, wie etwa die willfährigen Funktionäre dieses Verbrecherregimes, sofern sie in der Nachkriegszeit vor Gericht Rede und Antwort stehen mussten. Jene aber, die im Schatten der Anonymität ihre Taten verschleiern konnten oder als Mitläufer mit ihrem unheilvollen Erbe dafür sorgten, dass Hitlers Gedankengut an den Waldviertler Stammtischen fallweise immer noch auflebt, mögen einst von ihrem Höchstrichter zur Rechenschaft gezogen werden.

In diesem Dokumentarroman, durch den sich wie ein roter Faden  eine fiktive Handlung zieht, kommen neben den Katastralgemeinden von Ottenschlag auch kleinere Ortschaften der Marktgemeinde vor, die 1938 alle der Pfarre St. Jakob angehörten. Auswirkungen des Kriegsgeschehens, die die Nachbarorte betreffen [1] oder Parallelen im Schicksal anderer Waldviertler Gemeinden, runden das Bild ab.

Selbst wenn der Raum Ottenschlag von den kriegerischen Auseinandersetzungen nur am Rande tangiert wurde, wird eindeutig ersichtlich, dass dieser abgelegene Landstrich im ehemaligen „Ahnengau des Führers“ nicht zuletzt wegen der lange währenden Begeisterung der Bewohner für ihren größenwahnsinnigen Spross, primär jedoch wegen des Verlustes einer ganzen Generation an männlichen Hoffnungsträgern bis heute unter dem grausamen „Kampf“ ihres prominenten Abkömmlings zu leiden hat.

Zum Schluss sei allen gedankt, die die Recherchen zu diesem Buch unterstützt haben. Es sei mir verziehen, wenn ich hier nicht alle namentlich erwähne. Mein besonderer Dank gilt jedoch meinem Mitautor, dem Zeitzeugen, Hauptschuldirektor und Bürgermeister a. D. Paul Lenauer (*1928), ohne den dieses Buch niemals zustande gekommen wäre.

 

[1] Sallingberg, Lugendorf, Kirchschlag, Kottes-Purk, (Bad) Traunstein, Martinsberg und Gutenbrunn.